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Gegenwarstdiagnosen
Gegenwartsdiagnose eines Nondogmatikers: Gerald Kriedner
Gerald Kriedner ist ein Künstler, der im besten Sinne des Wortes postmodern genannt werden kann. Nach einer vielschichtigen, ausgedehnten Prägungs- und Erfahrungsphase,
einer Zeit der Selbstfindung und Selbsterfindung (vgl. den biographischen Abriss von Prof. G. Lelgemann, Katalog) ist er nun mit den in seinem neuen Katalog vorgestellten Werken
zu einem Stil gelangt, der unverwechselbar ist, ganz der vom ihm selbst an den Künstler gestellten Forderung entspricht: „Die Glaubwürdigkeit des Künstlers vor sich selbst
ist Qualitätsmaßstab und hat konform zu gehen mit seiner unverwechselbaren, individuellen Gestaltung“. Kriedner hat zu einer Bild- und Formsprache gefunden, die ein
stilistisches Konglomerat aus Jahrhunderten Kunstgeschichte, Ästhetik und Technik darstellt, dennoch eigen und eigensinnig ist.
Besagter Katalog stellt einen faszinierenden Querschnitt durch das Kriednersche Schaffen der letzten Jahre dar, dominiert von zwei - um das typische Strukturierungswerkzeug des Malers
zu nennen - Bilderzyklen: Die Serie „Chinesische Mauer“ bzw. die daraus hervorgegangene Serie „Mauern“,
die sich der Thematik aus einer mehr metaphysischen Perspektive nähert, ist eine davon. Begonnen um 1990 im handwerklichen Bereich, als Kriedner seinen ehemaligen Wohnsitz in Steinach schmückend-gestaltend mit
selbst herbeitransportierten, mosaikartig angeordneten oder bemalten Mauern und Böden verschönerte, sorgte das Interesse für die chinesische Kultur und die notwendige Auseinandersetzung
mit der Volksrepublik China dafür, dass dieses Thema zu einem Politikum wurde, mehr noch, zu einer sur-historischen, mystifizierenden (und damit aus dem individuell-vergänglichen
Zusammenhang reißenden) Beschäftigung mit der ehemaligen DDR, seiner Kindheit in einem sozialistischen Staat und dem - nicht erst seit dem „Ereignis“ auf dem Tian'anmen-Platz - maoistischen Sonderweg.
Hierzu sei dem interessierten Leser nochmals Prof. G. Lelgemanns Abhandlung empfohlen.
Denn nicht dieser Zyklus, wenngleich technisch wie stilistisch vielleicht die extremste Vielfältigkeit aufweisend - Assemblage-, Collagetechniken gemischt mit Futurismus, Tachismus,
Expressionismus und neoimpressionistischen wie auch konkreten Einflüssen - soll Thema dieses Essays werden, sondern jener andere, noch im Entstehen begriffene, der in seiner
„dynamischen Homogenität“ den geschlossensten Ausdruck der Kriednerschen Wandelbarkeit darstellt: „Kult-Süchte“ ist nicht nur des Künstlers neuestes Sujet,
sondern auch Abrechnung und Auseinandersetzung mit realpolitischer und gesellschaftlicher Problematik. Diese Serie soll im weiteren Verlauf des Essays exemplarisch für Kriedners
künstlerische Mannigfaltigkeit und Weitläufigkeit analysiert und interpretiert werden.
Der Themenkomplex „Kult-Süchte“ handelt tatsächlich weniger von Sucht im klassischen Sinne einer substanzbedingten Abhängigkeit, von Sucht
unter Anbetracht der gewöhnlichen Definitionsbasis; Er speist seine Ideen vielmehr aus den Zivilisations- und Kulturdogmen, wobei er keinen Unterschied zwischen Trivialem und
Hochkultur macht. Beide Bereiche werden in Kriedners Zerrspiegel der Persiflage und des Grotesken geworfen, wo sie uns - entstellt, aber erschreckend wohlbekannt -
entgegenstarren. Er betreibt eine „Philosophie mit dem Hammer“ (Nietzsche), nur dass er scheinbar tatsächlich beiderlei Wege geht: Einerseits das Überprüfen der westlichen
(Wohlstands-)Götzen, ob sie nicht nur hohle Phrasen sind, andererseits der zertrümmernde Schlag auf unsere leeren Idealbilder. Dionysisch, spottend ist
seine Vorgehensweise einerseits, andererseits intellektuell, sezierend - immer aber pointiert in der Darstellung. Sicherlich, beide Techniken überschneiden sich, seine Kritiken
haben persiflierende, satirische Elemente und die Persiflagen sind in höchstem Maße kritisch. Dennoch zeigt die Differenzierung bei genauerer Betrachtung von Bildaussage und -methodik
ihre Berechtigung: Wo die Persiflage (z.B. „Werbemodell für Burger-King“) mit einem
parodierenden Effekt und einer gewissen, bewusst gewählten Titeltrivialität - die Konzernnennung, der Verzicht auf einen lyrischen Klang - eine extreme Diskrepanz zwischen Titel
(und der damit einhergehenden Publikumserwartung) und tatsächlichem Bildinhalt schafft, zeigen die von mir der „Kritik“ (wie das Bild
„Wohlstandspaar“) zugerechneten Werke einen mehr intellektuellen, partiell sogar psychoanalytischen Zugang.
Kriedner nun ist ein Künstler - und das steigert noch seine Authentizität, seine Ausdruckskraft - dessen vielfältige „erzählerische“ Praktik - teils an die großen Spötter der europäischen
Geschichte (Rabelais, Swift, Bosch - wenn er auch minder manieristisch ist als letzterer), teils an soziologisch-politische Kritik angelehnt - mit einer beeindruckenden stilistischen
Polymorphie einhergeht, deren einzelne Techniken sich bis an die Ursprünge der Malerei - der künstlerischen Anthropogenese - selbst zurückverfolgen lassen.
Strukturfetischistisch schafft Kriedner einen Bildgrund, der aus organisch wirkenden - in ihrer Freiheit der lyrischen Abstraktion oder reinem Willen zum wild arabeskenhaften
zuzuordnenden - Mustern besteht, hierbei noch assemblierend diverse Alltagsmaterialien einbaut („Combinepainting!“ könnte man nun aufschreien). Es ist tatsächlich ein Erlebnis, diesen
im wahrsten Sinne des Wortes vielschichtigen Untergrund von Nahem zu betrachten: Eine florierende Fertilität scheint sich vor dem Zuschauer auszubreiten, organisch-schmutzige Formen, Farben,
Flecken, Strukturen, erdiger Humus der Kreativität. Manchmal auch eine Ahnung, man hätte keine Leinwand vor sich, sondern wäre in Lascaux. Archaische Muster.
Auf dieses Fundament setzt Kriedner Figuren, die oftmals nicht nur die Struktur des Untergrunds beinhalten, sondern auch die farbige Gestaltung dieses übernehmen. Durchscheinende,
fließende Gestalten, groteske, substanzlose Körper-Seele-Geister in plastischer Darstellung. Die von ihm geschaffenen Wesen sind als menschlich zu erkennen, keineswegs aber
klassisch ästhetisch. Wieder diese Techniken: Überzeichnung, Verfremdung, Amorphismus. Ein surrealer, individueller Symbolismus prägt die entindividualisierten westeuropäischen Stereotypen,
die Handlungsträger - besser gesagt - portraitierte, dynamische Wesen seiner Bilder sind.
Bei alledem verzichtet Kriedner auf den Raum; die Bilder der „Kult-Süchte“-Serie sind entlokalisiert, jede Zuordnung zum westlichen Kulturkreis
erfolgt nur über den Umkehrschluss. Es scheint, als hätte Kriedner eine Freude an der Ortlosigkeit, nachdem der Mauern-Zyklus a priori die Notwendigkeit
des „realen“ Raums beinhaltete.
Ortlosigkeit bedeutet in diesem Fall auch ganz klar Orientierungslosigkeit - wo befinden wir uns, wo ein fester Anhaltspunkt, dem der lebensmüde, auflösende Körper des Abendlandes
folgen kann; weiter noch: Wo ist der Osten, wo die Sonne, welches Licht kann unser Dunkel erleuchten, welche aufklärerische Ratio uns erretten. Ironischerweise zeigen einzig die
„Laufsteglichter“, diese Parodie auf die anorexische haute couture und haute culture, eindeutige Lichtquellen,
wohingegen alle anderen Bilder in ein diffuses, unscheinbares Licht von Irgendwoher getaucht sind.
Die noch junge „Kult-Süchte“-Serie, gerade die drei neuesten Werke aus dem Zyklus („In deutschen Krankenhäusern / Patient unter dem CT“,
„Werbemodel für Burger-King“, „McDonalds - vorher und nachher“),
unterscheiden sich durch ein weiteres Merkmal von Kriedners restlichem Opus: Die fahle, kühle Farbwahl. Wo die Farben in früheren Bildern oftmals ein faszinierendes Eigenleben entfalteten,
spürt der Betrachter bei jenen nur Distanz, er wird Beobachter, dem die intellektuell bestimmte Rolle des Interpreten regelrecht aufgedrängt wird. Selbst in den farbig vergleichbar kühlen
„Laufsteglichtern“ dominieren noch rot und gelb, ein gewisses Glitzern, eine leuchtende Farbkraft, eine exzessiv vordergründige Bilduntergrundstruktur, die
zusammen mit der Wärme der Farben einen intuitiver-emotionaleren Zugang ermöglichen. Konkret sind es beispielsweise die Bilder „Wohlstandspaar“
und - au contraire - „In deutschen Krankenhäusern / Patient unter dem CT“, die die Entwicklung der Kolorierung verdeutlichen.
Wollen wir uns im weiteren Verlauf dieses Versuchs einigen der Bilder aus dem Zyklus interpretativ nähern. Auch dies soll, soweit möglich, mehr exemplarisch denn umfassend geschehen.
Kunst wäre nicht Kunst, wenn nicht der Interpret - jeder Interpret, jeder Betrachter, der sich auf ein Werk mit seinen ganz subjektiven Konnotationen einlässt - das eigentliche,
unumstrittene Primat der Sinn- bzw. Signifikatsschaffung hätte. Darum soll die Analyse Hilfestellung, Deutungsvorschlag, vielleicht (sofern das gelingt) Werkzeug für den Kunstliebhaber sein,
der so Kriedners Mikrokosmos „vollkommener“, detaillierter genießen kann.
Wie umfassend, wie mannigfaltig die assoziativen Verbindungen der (sowohl bereits erwähnten bildlichen wie auch inhaltlichen) Ebenen in seiner Malerei sind, dafür kann
„In deutschen Krankenhäusern / Patient unter dem CT“ als beispielhaft gelten. Auf dem Bild zu sehen: Eine bleiche,
bläuliche Figur, knochig, transparent schon, selbst das Gebein verschwindet. In den Händen ein schwer definierbares, blaues Objekt - der Verdacht, es könnte sich um einen Strauß Blumen
handeln, genauer Astern, die Tod und Begräbnis konnotieren, liegt nahe, kann aber nicht verifiziert werden. Der CT: Ein schwarzer Tunnel, ganz ohne helles Licht am Ende - eine ernüchternde
Version der Erlösung.
Gesellschaftskritik an deutschen Krankenhäusern und Ärzten, durch deren Kunstfehler jährlich mehr Menschen sterben als durch Autounfälle, an Krankenkassen, die z.B. die Herpecin-Behandlung
erst ab der Metastasenbildung zahlen muss.
Zwei Deutungsmöglichkeiten eröffnet das Bild: Entweder handelt es sich um eine krasse, überdeutliche Kritik am maroden deutschen Gesundheitswesen, dessen Ausfälle und Kunstfehler Kriedner
am eigenen Leibe erfahren musste. Oder aber es kritisiert die Ewigkeitsgläubigkeit des modernen Menschen, das Dogma des medizinischen Fortschritts, das letztlich den Kontakt von Selbst
und Körper unterbricht und diskreditiert - Die eigene Vergänglichkeit ist dem Westeuropäer nicht Tatsache, sondern medizinisch zu behebende Schwäche. Diese Deutung stützt sich auf
die Figur des Patienten: Körperhaltung, Lage auf der Bahre und die „blauen Astern“ wirken wie aus einer Begräbniszeremonie entnommene Signifikante. Auch Farbwahl und die erwähnte Auflösung
des Körpers zeigen die Gestalt dem Jenseits näher als der Genesung.
Begräbnisritual, archetypische Mimik, Physiognomie des Sterbenden - Ist es Überinter-pretation oder besteht eine Ähnlichkeit zwischen Kriedners Zügen und den abgebildeten ? - fahle Struktur,
Schwärze des Tunnels, verwobene Farben, Formen, Gesichter ex nihilo, Bahren/Liegen, ein provokanter Titel, der das Moment der Ironie erregt - das alles als Eindrücke, Blitzlichter auf dem
Topos des Bildes.
In der Tat hat Kriedner eine Vorliebe für ungewöhnliche, hintergründige Titel, die manchmal auf den ersten Blick fast schon banal wirken. Mit anderen Worten: Wie deutlich und plakativ darf
Kunst in der Titelwahl sein? „McDonalds - vorher und nachher“ ist in seiner Drastik nicht nur recht einmalig,
sondern auf den ersten Blick fraglich und fragwürdig. Erst bei näherer Überlegung - im Kontext des Bildinhalts - zeigt sich Sinn und Ziel der Titelwahl: Ein werbetechnischer bzw. photographischer
Effekt wird angedeutet; man denkt an das Splitscreen-Vorher-Nachher einer beliebigen Waschmittelanzeige. Antithetisch das Verhältnis von Titel und Inhalt: Wo ersterer eine Werbenachricht gleich
zweifach konnotiert - einerseits durch besagten Effekt, andererseits durch die explizite Firmennennung - zeigt das Bild zwei unansehnliche Körper im Kontrast. In gespenstisch-bleiches Blau-Grün
getaucht das ehemalige, im Hintergrund liegende Äußere, zwar wenig ansprechend ob der Farbwahl, doch durch gewisse Linienführungen - die spitzen Brüste - als erotisch zu registrieren.
Eine chronologische Dimension wird erzeugt durch die Aufteilung in Vordergrund und Hintergrund, die der linearen Zeitvorstellung entsprechen, gleichzeitig aber gebrochen wird durch das vom
Transparenzeffekt ermöglichte „Einfließen“ der hinteren in die vordere Figur, das die Beine bzw. Knochen der „Vergangenen“ durch die Fettwülste schimmern lässt.
Wuchernd, wölbend das rosa Fleisch des „Nachher“, maßlos, wie ein Gargantua der Fast-Food-Kultur sitzt sie, lasziven Blicks, leicht gedrehten Kopfes raumfüllend im Vordergrund, eine Hand in
Verspottung des erotischen Zeichenregisters auf der Innenseite ihres Schenkels liegend. Ihre Scham beschattet von Bauch und fließenden, hängenden Brüsten.
Gerade im Vergleich zu früheren Werken zeigt sich, dass Kriedners aktuelle Werke leichter zu öffnen sind - nicht im Sinne einer Simplizität oder Flachheit, sondern im Sinne der spontanen
ersten Reaktion des Betrachters. Die Spröde und schwere Zugänglichkeit, die selbst in den Anfängen des Zyklus zu bemerken war - beispielsweise im 2003 entstandenen
„Wohlstandspaar“ - und noch viel stärker in den früheren Werken, ist einer spöttisch-gebrochenen Volkstümlichkeit
gewichen: Kriedner passt - ob bewusst oder unbewusst - seine individuelle stilistisch-inhaltliche Mythologie der Thematik seiner „Kult-Süchte“-Serie an.
Scharfe Kritik an Konsumismus und der materiellen Fixiertheit bestimmt die Szenerie. Sein neuer Fokus im Zyklus ist nicht mehr im globalpolitischen Rahmen oder in der historischen Dimension
zu sehen, sondern im westlichen Alltagsleben. Seine Inhalte findet er nunmehr in bizarr übersteigerten Phänomenen der überbordernd zynischen Realität: Nicht mehr die
Missstände und Verbrechen im brasilianischen Dschungel klagt er an, sondern die perverse Maßlosigkeit des christlichen Abendlandes, das von Kapital, Konsum und Kulturmüdigkeit gezeichnet,
entstellt ist. Das gibt den „Kult-Süchten“ eine neue, system- und gesellschaftskritische Brisanz, die durch expressiv-ungefilterte
Unmittelbarkeit beim Betrachter eine unvermittelte, immediate Wirkung hat.
Jakob Heller
(freier Journalist und Kritiker)